Donnerstag, 12. Februar 2015

Rechte von Menschen mit Behinderung werden unterlaufen

9. Sozialgesetzbuch: Der Widerspruch von Theorie und Praxis

In einem früheren Beitrag hatte ich darauf aufmerksam gemacht, dass ein im § 17 SGB IX für Menschen mit Behinderung postuliertes Recht auf ein persönliches Budget zumindest für suchtkranke Patienten nicht umgesetzt wird. In dieser Auseinandersetzung soll es nun um ein weiteres in der Praxis nicht umgesetztes Recht behinderter Menschen gehen, zu denen auch Suchtkranke gezählt werden.

Den Anlass gab ein Besuch eines Reha-Beraters der Deutschen Rentenversicherung in der Klinik, in welcher ich beschäftigt bin. Einer meiner Patienten wurde zunächst von diesem Berater über die Möglichkeiten der beruflichen Wiedereingliederung nach Abschluss seiner Behandlung informiert. Schließlich sollte der Patient einen Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bei seiner Rentenversicherung stellen. (Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben werden eingesetzt, wenn Versicherte auf Grund einer gesundheitlichen Beeinträchtigung ihren Beruf nicht weiter ausüben können und wenn gleichzeitig die Chance besteht, nach Einarbeitung auf einem anderen Arbeitsplatz oder nach Umschulung in einem anderen Beruf auf Dauer arbeiten zu können.) Dabei wurde dieser Patient aber auch darauf hingewiesen, dass sein Antrag erst nach Abschluss seiner Suchtbehandlung auf der Grundlage des Entlassungsberichts der behandelnden Klinik geprüft werden könne, er sich also bis zum Beginn einer arbeitssichernden Maßnahme eine gewisse Zeit werde gedulden müssen.

Genau dieser Umstand (die zeitliche Verzögerung zwischen zwei oder mehreren Maßnahmen) ist jedoch vom Gesetzgeber gerade nicht intendiert gewesen. Man war sich nämlich bei Verabschiedung des Gesetzbuches (SGB IX) bewusst, wie wichtig ein nahtloses Ineinandergreifen erforderlicher Maßnahmen für das Gelingen des gesamten Hilfepakets ist. Dass z.B. ein Alkoholiker nach erfolgreicher Entwöhnung von seiner Sucht womöglich ein ganzes Jahr warten muss, bis seine Berufsperspektive geklärt ist, stellt eine eklatante Gefährdung des Behandlungsergebnisses dar.

Um genau dieser Gefahr entgegenzuwirken, wird in § 10 SGB IX vom zuständigen Rehabilitationsträger verlangt, dass er für ein nahtloses Ineinandergreifen der erforderlichen Reha-Maßnahmen Sorge trägt. Diesem Gedanken folgend wird im nächsten Paragrafen (§ 11 SGB IX) vom Rehabilitationsträger auch verlangt, dass er bereits bei „Einleitung einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation,“ und danach auch „während ihrer Ausführung und nach ihrem Abschluss,“ prüft, „ob durch geeignete Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben die Erwerbsfähigkeit des behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen erhalten, gebessert oder wiederhergestellt werden kann.“ Und weiter heißt es im selben Paragrafen: „Er beteiligt die Bundesagentur für Arbeit.“


Dieses Gesetzbuch wurde 2001 bereits verabschiedet, doch leider stelle ich immer wieder fest, dass die Deutsche Rentenversicherung es in den beschriebenen Punkten nicht umsetzt. Ebenso verhält sich in der Regel die Arbeitsagentur, wenn sie sich weigert, unsere Patienten bereits während ihrer Behandlung über weitere berufliche Schritte zu beraten. Natürlich würde ein gesetzeskonformes Prozedere mehr Arbeit nach sich ziehen, da so mancher Suchtpatient nach Abschluss seiner Entwöhnungsbehandlung seinen Antrag auf weitere Leistungen nicht mehr aufrechterhält. Entweder ist er schlicht rückfällig geworden oder er ist des Wartens müde und arbeitet halt erneut in einer Tätigkeit, die seine Gesundheit weiter beeinträchtigt. Deshalb sehe ich den Gesetzgeber bzw. das zuständige Bundesministerium für Arbeit und Soziales in der Pflicht, bei den Rentenversicherern auf eine dem Geist des SGB IX entsprechende Umsetzung des Gesetzes hinzuwirken.