Skepsis der Evidenzbasierten Therapiemodule in der Behandlung der Alkoholabhängigkeit

von Dipl.-Päd.  Volker Schmidt 

1   1. Einleitung

2009 wurden die neuen Therapiestandards Alkoholabhängigkeit durch die DRV Bund veröffentlicht. Im Mittelpunkt dieser als Reha-Qualitätssicherung postulierten Leitlinien stehen sogenannte Evidenzbasierte Therapiemodule. Hierdurch soll eine „Verbesserung der Versorgung chronisch kranker Menschen auf wissenschaftlicher und qualitätsgesicherter Grundlage“ sichergestellt werden. Die Rentenversicherer, vorrangig die DRV Bund, versuchen damit, die als Handlungsempfehlungen deklarierten Therapievorgaben auf einer wissenschaftlichen Basis zu begründen. Dass es sich dabei jedoch weder um Wissenschaft noch um eine Verbesserung der Versorgung Alkoholkranker handelt, soll im Folgenden diskutiert werden.

2    2. Begriffsklärung: Evidenzbasierte Wissenschaft

2.1 Evidenzbasierte Medizin
Die EbM verlangt, dass bei einer medizinischen (pharmakologischen) Behandlung patientenorientierte Entscheidungen auf der Grundlage von empirisch nachgewiesener Wirksamkeit getroffen werden sollen.  Die Evidenz wird hierbei nach Validitätskriterien hierarchisch geordnet. Der Evidenzbegriff wird in Analogie zur Wirksamkeitsforschung verwendet. Wobei die aufgestellte Hierarchie der Evidenzformen allerdings nicht begründet wird, sodass sich der Verdacht ergibt,  dass hier ein Zusammenhang von bestimmten Interessen und entsprechender Erkenntnisproduktion vorherrscht.

2.2 Evidenzbasierte Psychotherapie
In Abgrenzung zum naturwissenschaftlich-statistischen Evidenzbegriff problematisiert Buchholz (1999) Psychotherapie sei eine einzigartige Interaktions- und Beziehungsgestaltung; sie sei immer nur individuell praktizierbar, nicht aber allgemein definierbar; sie variiere eine Vielzahl von Metaphern und Perspektiven, beschäftige sich mit existenziellen Problemen der Patienten in einer intimisierten Interaktionsweise und brauche deshalb immanent die individuelle Persönlichkeit des Therapeuten in seiner interaktiven, interpretativen und intervenierenden Wirkung - psychotherapeutische Praxis beschreibe man am besten als eine spezialisierte Form sozialer Interaktion[1].
Deshalb postuliert Pfadenhauer (2005), dass für das Feld der Psychotherapie, bzw. für jedes Psychotherapieverfahren separat, eine interne Instanz institutionalisiert werden muss, die die jeweilige psychotherapeutische Praxis auf ihre Professionalität hin reflektieren und validieren kann. Bereits 1974 wurden zur Validierung von Psychotherapieverfahren von Lorenzer für den Bereich der Psychoanalyse zwei interaktiv-hermeneutische Felder rekonstruiert. HF I  beschreibt eine vorläufige subjektive Erkenntnisgewissheit. Während in HF II mittels einer Gruppendiskussion von erfahrenen Professionsangehörigen Interaktion, Interpretation und Intervention der psychotherapeutischen Praxis des HF I intersubjektiv reflektiert und validiert werden. Dieses Verfahren scheint dem Forschungsansatz der DRV, für den Bereich der Alkoholtherapie durch Patientenbefragung und Peerreview zu relevanten Ergebnissen zu gelangen, zu ähneln.


3    3. Ist Evidenz im Bereich der Behandlung von Alkoholabhängigen überhaupt herstellbar?
Für die medizinisch-pharmakologische Forschung mag die Feststellung der Wirksamkeit von Medikamenten und Behandlungen bei definierten Patientenvoraussetzungen mit Einschränkungen gelingen. In der Psychotherapie stellt die Tatsache, dass eben nicht von einer linearen Kausalität einer bestimmten Therapiemethode ausgegangen werden kann, sondern zum einen die Interaktion zwischen einem bestimmten Therapeuten und einem bestimmten Patienten das Ergebnis determiniert, und zum anderen intersubjektiv diskutiert werden muss, eine Herausforderung dar, um am Ende zu einer zuverlässigen Validierung zu gelangen. Ausgegangen wird dabei von einer definierten psychotherapeutischen Methode und der therapeutischen Interaktion mit einer definierten Persönlichkeitsstörung aufseiten des Patienten.
Wie viel komplexer müsste dann eine Validierung im Bereich der Behandlung von Suchtkranken ausfallen, wenn die einzige Gemeinsamkeit die Einnahme einer kritischen Menge von Alkohol darstellt. Berücksichtigt werden müssten aber eine Fülle von therapeutischen Ansätzen, unterschiedlichste Patientenpersönlichkeiten und deren extratherapeutische Ressourcen sowie häufige Komorbidität. Dass dieses eher unwahrscheinliche Unterfangen gemäß den Leitlinien der DRV gelungen sein soll, ist umso erstaunlicher, als sogar jeweils konkrete Anhaltspunkte bezüglich des Prozentsatzes der zu erreichenden Patienten und des  zeitlichen Mindestumfangs der Module geliefert werden.

4    4. Wie erhebt die DRV ihre Befunde?

4.1.  Patientenbefragung
Vorausgesetzt wird hier, dass die Patienten verlässliche Aussagen darüber treffen können, was genau während ihrer Behandlung  ihnen geholfen hat. Das mag im Einzelfall gelingen, doch eine Vielzahl an Patienten dürfte angesichts einer Fülle von Angeboten hier nur sehr vage Angaben machen können. (Dazu noch die legendäre 1000er Befragung, nach der die Gespräche der Patienten untereinander ihnen am meisten geholfen haben sollen.)

4.2. Peerreview
In Analogie zu der für die evidenzbasierte Psychotherapie postulierten Reflektion der Praxis auf ihre Professionalität hin soll auch in der Alkoholentwöhnung eine Art gegenseitige Supervision der Fachleute stattfinden. Dies findet in Form von Peerreviews statt, in denen in der Regel leitende Ärzte und Oberärzte der Suchtfachkliniken Struktur und Inhalte ihrer Entlassungsberichte diskutieren, auswerten und zu verbessern suchen. Die Begrenzung dieses Gremiums auf medizinisch geschulte Fachleute aus den von den Rentenversicherern anerkannten Fachkliniken sorgt natürlich für eine gewisse Homogenität der Ansichten, indem andere Berufsgruppen  und von den Leistungsträgern nicht anerkannte therapeutische Ansätze von vornherein ausgeklammert werden. Da kann also nichts wirklich Neues entstehen.

4.3. Strukturerhebung
Wie sollen aufgrund von Daten über die personelle und materielle Ausstattung einer therapeutischen Einrichtung sowie über deren  diagnostische und therapeutische Verfahren Aussagen über die Validität von Behandlungen gemacht werden können? Sie stellen lediglich den Status Quo fest sowie strukturelle Unterschiede zwischen einzelnen Häusern, aber nicht dessen Einfluss auf das Behandlungsergebnis.

5. Fazit und Kritik
Eine Untersuchung, inwieweit bestimmte Therapiemodule den Therapieerfolg begünstigen, wäre wegen ihrer außerordentlichen Komplexität nicht durchführbar. Objektiv feststellen ließe sich nur, ob ein Proband über einen bestimmten Zeitraum nach seiner Behandlung abstinent gelebt hat. Geholfen haben ihm dabei seine persönlichen Ressourcen sowie die Behandlung als Ganze; über den Grad des Einflusses einzelner Behandlungsmodule lassen sich lediglich Vermutungen anstellen.
Die Methoden der Patientenbefragung, des Peerreviews und der Strukturerhebungen bewegen sich im von der DRV vorgegebenen Rahmen. Das ist schlicht unwissenschaftlich. Insbesondere fließen folgende Faktoren nicht in die Validierung ein: 
  • -   Bewertungen nicht-medizinischer Berufsgruppen wie Psychologen, Sozialpädagogen und Arbeitstherapeuten sowie auch solcher Fachleute, die gemäß der Suchtvereinbarung der Leistungsträger in der Suchtbehandlung eigentlich gar nicht mehr zugelassen sind
  • -   Untersuchungen über den Einfluss des Zeitfaktors (Dauer der Behandlung)
  • -   Untersuchungen über den Einfluss des sozialen Klimas einer Klinik
  • -   therapeutische Ansätze von Einrichtungen, die nicht von der DRV anerkannt sind

 Im Übrigen: Hätte man die ETM-Idee bereits vor 300 Jahren auf die damalige Medizin angewendet, wäre der Aderlass totsicher der absolute Renner gewesen. Experten hätten alle dafür gesprochen (Peerreview), an jedem Krankenhaus wurde er praktiziert und geeignete Instrumente waren vorhanden (Strukturerhebung) und eine Patientenbefragung wäre wahrscheinlich auch positiv ausgefallen, weil man doch an die Ärzte geglaubt hat.

Was bleibt, ist die Frage, wem die von der DRV aufgestellten Leitlinien nützen.


[1] Außerdem haben Duncan/Hubble/Miller (Hrg, 2001) in ihrer Zusammenfassung von Therapieforschungsergebnissen herausgefunden, dass der Methoden/Technik-Anteil am Therapieerfolg nur 15% der Varianz erklärt, während die Qualität der therapeutischen Beziehung 30% erklärt und die extratherapeutischen Klientenressourcen sogar 40%.


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