Bestimmen
die „AWO-Werte“ noch unser Handeln oder werden wir zukünftig von rein marktwirtschaftlichen
Erfordernissen geleitet.
Dem Einstieg in die Problematik
mögen zwei Zitate dienen, die für die beiden Pole einer Zerreißprobe stehen
sollen, in der sich die Arbeiterwohlfahrt zunehmend befindet.
„Wir sind ein Mitgliederverband, der für eine sozial gerechte
Gesellschaft kämpft und politisch Einfluss nimmt. Dieses Ziel verfolgen wir mit
ehrenamtlichem Engagement und professionellen Dienstleistungen.“[1]
„Vielmehr beschreiben die Absenkung tariflicher Niveaus, Tarifflucht,
das Outsourcen von Betriebsteilen in Servicegesellschaften, hohe
Arbeitsverdichtung sowie der wachsende Einsatz von Zeit -/Leiharbeiter und
Teilzeitbeschäftigung den Rahmen der Personalpolitik einer Vielzahl von
Einrichtungen. In der Folge haben sich nicht nur die Arbeitsbedingungen in der
Pflege in Deutschland deutlich verschlechtert …“[2] (Das neuere
Phänomen „Werkverträge“ ist hier noch nicht einmal angesprochen. Zu oft werden
inzwischen Mitarbeiter eigentlich rechtswidrig als verkappte Leiharbeitnehmer
im Rahmen eines (Schein-)Werkvertrags zu Billiglöhnen beschäftigt.)
Während die Mitglieder der AWO in
der Regel deshalb unserem Verband beigetreten sind, weil ihnen die Benachteiligten
unserer Gesellschaft besonders am Herzen liegen und sie deshalb für Werte wie
Solidarität, Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit eintreten, beschreiben
Hilbert und Evans die Folgen eines von ökonomischen Grundsätzen geleiteten
Handelns, welches von Möhring-Hesse und Sell als „Verbetriebswirtschaftlichung“[3]
bezeichnet wird, um damit „zum Ausdruck
zu bringen, dass die Einrichtungen, die soziale Dienste erbringen, gezwungen
werden, sich wie Betriebe aufzustellen und sich und die von ihnen angebotenen
Dienste einer betriebswirtschaftlichen Logik zu unterwerfen.“[4]
Hier geht es nicht um eine
Verurteilung von Verantwortlichen im Unternehmensbereich der AWO. Die machen ja
angesichts der sehr schwierigen Verhältnisse eigentlich hervorragende Arbeit,
bedenkt man, dass die Aufgaben der Geschäftsführung bzw. des Vorstandes
zunächst vorrangig betriebswirtschaftliche sind. Vielmehr gilt es, die
schwierigen sozioökonomischen Bedingungen, unter denen derzeit
Wohlfahrtsverbände ihre Dienstleistungen erbringen müssen, zu verstehen und
gleichzeitig nach Wegen zu deren Überwindung zu suchen, um nicht in einer Art
Schizophrenie zwischen hären Leitmotiven – repräsentiert durch die
Mitgliederverbände – und rein marktwirtschaftlich motiviertem Handeln –
repräsentiert durch die Verantwortlichen im Unternehmensbereich – zu enden, die
letztlich unser Selbstverständnis als Wohlfahrtsverband infrage stellt und auch
die Gewinnung von neuen Mitgliedern damit erschweren dürfte.
Die angesprochenen
gesellschaftlich-ökonomischen Bedingungen besonders im Bereich der Alten- und
Pflegeheime, die den Schwerpunkt unserer Einrichtungen ausmachen, werden hier
nur kurz skizziert. Eine detailliertere Darstellung kann dem Beitrag von Prof
Sell in den Remagener Beiträgen zur aktuellen Sozialpolitik 06-2009 entnommen
werden. Sell beschreibt anschaulich, wie sich trotz einer inzwischen
günstigeren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts bezüglich der bei der Festsetzung
von Pflegesätzen in Pflegeheimen zugrunde zu legenden Kostenkalkulation immer
noch eine für tarifgebundene Träger ungünstige Situation ergibt. Einerseits
werden bei Pflegesatzverhandlungen mit den Pflegekassen zwar die realen Kosten
eines Heimes herangezogen und auf deren Plausibilität überprüft, im zweiten
Schritt jedoch erfolgt doch wieder der externe Vergleich mit anderen Heimen in
der Region, die dieselbe Leistung „billiger“ anbieten können. Eine wesentliche
Rolle spielt dabei, dass der Anteil privater, nicht tarifgebundener Pflegeheime
dramatisch zunimmt (der sich im Bundesdurchschnitt der 40%-Marke nähert), die
sich durch eine geringere Vergütungshöhe Wettbewerbsvorteile verschaffen. Die
von Hilbert und Evans eingangs beschriebenen Phänomene, Tarifflucht, Outsourcen
von Betriebsteilen in Servicegesellschaften usw., stellen daher
betriebswirtschaftliche Maßnahmen dar, mit denen – zugegebenermaßen erfolgreich – versucht wird,
in einer sich zuspitzenden Wettbewerbssituation nicht abgehängt zu werden. Die
AWO als Kostenträger sozialer Einrichtungen ist damit aber auch zur Getriebenen
einer Entwicklung geworden, die den gesellschaftlich-ökonomischen Druck, dem sie
ausgesetzt ist, nach unten an ihre Einrichtungen und deren Mitarbeiter
weitergibt. Weitere Folgen sind Phänomene wie die „Verfeindung“ von
Organisationen, die selbst ursprünglich Teile der Arbeiterbewegung waren, von
denen man also eigentlich eine besondere Solidarität erwarten würde:
AWO-Verbände und die Gewerkschaft ver.di lieferten sich in den sich über lange
Zeit hinziehenden Tarifverhandlungen seit 2007 „Gefechte“, die durch ihr
Medieninteresse auch einer breiteren Öffentlichkeit nicht verborgen geblieben
sind. Darüber hinaus scheint auch die vom Betriebsverfassungsgesetz geforderte
vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen AWO-Arbeitgebern und Betriebsräten
immer schwieriger zu werden, wenn Letztere nicht mehr als Partner gesehen
werden, sondern hauptsächlich als Verursacher von Kosten.
Die Fragen, die sich jetzt also
stellen, sind:
- Bis
zu welchem Punkt sind die Verantwortlichen im Unternehmensbereich der AWO bereit,
sich diesen Zwängen zu unterwerfen oder ist man bereits so weit, dass man
bereit ist, jeden Preis zu bezahlen?
- Müssen
wir unsere ethischen Grundsätze über Bord werfen und uns den Zwängen des
Marktes und der gesellschaftlichen Bedingungen gänzlich beugen, um die achtenswerten
sozialen Einrichtungen der AWO erhalten und sogar erweitern zu können?
- Inwieweit
sind die ehrenamtlichen Mitglieder der AWO bereit, diesen Prozess mitzutragen
oder gibt es für sie irgendwann einen Punkt, an dem man beginnt, sich
enttäuscht abzuwenden? Bzw. sind angesichts offensichtlicher Widersprüche
überhaupt noch neue Mitglieder in nennenswerter Zahl zu gewinnen?
Die von Prof. Sell postulierte „Exit-Option“[5] - nämlich die Ankündigung eines Ausstiegs aus
einem Geschehen, das man guten Gewissens nicht mehr unterstützen kann – wäre
eine Konsequenz, die vom Autor selber letztlich nicht als wahrscheinlich
angesehen wird. Dringend erforderlich – wenn wir als Wohlfahrtsverband nicht
jede Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen wollen –, scheint mir jedoch die
Aufhebung des geschilderten Gegeneinanders zwischen der AWO als Trägerverband
und den Vertretungen ihrer Arbeitnehmer, Gewerkschaft und Betriebsräte, und
damit letztlich auch die Aufhebung eines Bruchs zwischen der AWO und weiten
Teilen ihrer Arbeitnehmerschaft zu sein.
Wie könnte das geschehen? Indem
der aus dem sozioökonomischen Spannungsgefüge
resultierenden Druck zur Kostenoptimierung nicht mehr einfach nur nach unten
weitergegeben wird, sondern auch und gerade nach oben, indem versucht wird, die
den ökonomischen Druck verursachenden gesellschaftlichen Bedingungen selbst zu
verändern. Dabei könnten zwar die derzeit stattfindenden, eher moderaten Entgeltanhebungen,
wenn nicht faktischen Kürzungen (wenn man die Inflationsrate mitberücksichtigt)
ein unter den gegebenen Rahmenbedingungen zunächst unausweichlicher Schritt
sein, daneben muss jedoch auch eine unüberhörbare Politisierung des Problems
stattfinden. Ansatzweise geschieht dies natürlich bereits, jedoch bislang noch
zu wenig.
Exkurs: Keine Veränderung ohne vorherigen Bewusstseinswandel
Praktische Schritte werden sehr wahrscheinlich erst dann möglich bzw.
angestrebt, wenn zuvor ein Bewusstseinswandel stattgefunden hat, in dessen
Entfaltung das stattfinden kann, was in den auf der Bundeskonferenz in
Magdeburg 2007 verabschiedeten Grundsätzen der Unternehmenspolitik gefordert
wird:
„Die Organe des AWO-Mitgliederverbandes legen die strategische Grundausrichtung
für ihre Unternehmen/Unternehmensbereiche fest und kontrollieren das
Unternehmensmanagement“[6] und
„Die Vermittlung AWO-spezifischer Werte an hauptamtliche Führungskräfte
der AWO-Unternehmen / Unternehmensbereiche ist eine originäre Aufgabe des
AWO-Mitgliederverbandes.“[7]
Die Aufsicht geht also von den Organen des Mitgliederverbandes aus und
erstreckt sich unter besonderer Berücksichtigung AWO-spezifischer Werte auf den
Unternehmensbereich. Die Grundsätze der Unternehmenspolitik geben also sehr
deutlich die Richtung der Einflussnahme vor. Was unter gar keinen Umständen
intendiert wird, wäre damit im Umkehrschluss ein bloßes Abnicken des
eingeschlagenen betriebswirtschaftlich anscheinend unausweichlichen Weges, weil
es in der Konkurrenz mit anderen Einrichtungsträgern, die denselben Zwängen
ausgesetzt sind, vermeintlich keine Alternative gibt. Letzteres würde die
Magdeburger Beschlüsse (und nicht nur sie, sondern die AWO selbst) auf den Kopf
stellen, sie gleichsam pervertieren.
Die ehrenamtlichen Mitglieder und die hauptamtlichen Führungskräfte der
AWO sollten mit allem Nachdruck Sorge tragen, dass wir durch unser Handeln
unsere in Leitbildern und Grundsatzpapieren verfasste Identität wahren. Danach
kann z.B. die Eröffnung einer neuen AWO-Einrichtung niemals Priorität bekommen,
wenn nicht gleichzeitig auch die Frage, ob die Arbeitsbedingungen dieser
Einrichtung sich mit unserer Identität decken, befriedigend geklärt wird.
Was also kann zur Politisierung des
Problems beitragen?
- eine
verstärkte und breite Öffentlichkeitsarbeit, die das Lohndumping-Problem in der
Altenpflege stärker ins Bewusstsein der Bürger bringt
- Solidarisierung
der AWO mit Gewerkschaften und Arbeitnehmern sowie mit anderen
Wohlfahrtsverbänden durch gemeinsame Statements und Aktionen
- Nutzung
aller politischen Möglichkeiten zur Durchsetzung eines allgemein-verbindlichen
Tarifvertrags Soziales
- Forderung
einer uneingeschränkten Anerkennung der Tarifbindung in Pflegesatzverhandlungen
Diese Maßnahmen sollten möglichst
unverzüglich in Angriff genommen werden, indem wir nicht länger wie Sell es
polemisch formuliert „links blinken und
rechts fahren“[4] und unsere Augen vor dem
bereits fortgeschrittenen Verlust an Glaubwürdigkeit als Vertreter sozial
Benachteiligter verschließen, sondern die gesellschaftliche Herausforderung
annehmen und wieder für die Wohlfahrt von Arbeitern kämpfen, wie das von unseren
Mitgliedern erwartet wird und wie dies in unseren Leitsätzen verankert ist: „Wir
sind ein Mitgliederverband, der für eine sozial gerechte Gesellschaft kämpft
und politisch Einfluss nimmt“.
[1] Aus den Leitsätzen der AWO
vom Dezember 2005
[2] Hilbert, J. und Evans, M.:
Mehr Gesundheit wagen! Gesundheits- und Pflegedienste innovativ gestalten.
Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung 2009, S. 28
[3] Möhring-Hesse, M. 2008:
Verbetriebswirtschaftlichung und Verstaatlichung. Die Entwicklung der Sozialen
Dienste und der Freien Wohlfahrtspflege.
[4] Sell, S.: Das Kreuz mit
der Pflege, in Remagener Beiträge zur aktuellen Sozialpolitik 06-2009, S. 16
[5] ebd., S. 16
[6] Grundsätze und Eckpunkte
der Unternehmenspolitik der AWO, 2007, Grundsatz 2, S. 15
[7] Grundsätze und Eckpunkte
der Unternehmenspolitik der AWO, 2007, Grundsatz 2, Eckpunkte, S. 16
ege, in Remagener Beiträge
zur aktuellen Sozialpolitik 06-2009, S. 16
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